3.
Die Kirchturmuhr schlägt sieben, als ich mich am nächsten Morgen aus klammen Laken schäle. Die Heizung lief zwar die ganze Nacht, aber es wurde nicht richtig warm. Nach einer Dusche begutachte ich meinen Eisschrank. Im oberen Fach liegt eine mumifizierte Paprika, im mittleren meine Migränebrille (die ich in Berlin schon schmerzlich vermisst habe) und in der Tür eine Trüffel-Steinpilz-Tapenade, die seit drei Jahren nicht schlecht wird.
Müde trotte ich zum Italiener an die Ecke, der Sonntags immer frisches Ciabatta hat. Im Schaufenster sehe ich, dass er hausgemachte Crostini im Angebot hat. Das wäre was Feines zum Frühstü...
„Leichhardt! Bist du´s?“ Mit einem Schrei stürzt Fabrizio Balbo aus seinem Laden heraus und umarmt mich. „RAGAZZO! MA VEDI! PERCHÉ SEI QUI? Ich dachte, du bist in Berlin! Hats dir nicht gefallen? Scheißstadt, eh? Hast dich nach Wiesbaden zurückgesehnt und nach MIR! Ma bello!“ Er küsst mein Gesicht von oben bis unten ab.
„FABRIZIO! ... Hör auf! ... Mein Gott ... ich bin nur KURZ hier ... wegen dem Schollhammerfall ...“
„Schollhammer? Un grande vinatore! Eccezionale!“ Lebhaft führt er mich in seinen Laden.
„Mach mir eine Essenstüte, Fabrizio, ich habe nichts im Haus, Keinen Kaffee, keine Milch, es ist deprimierend ...“
„Mortadella? Pecorino?“ Er schnickt eine Tüte auf und sieht mich fragend an.
„Was du willst ...“ Mein Blick fällt auf die Wiesbadener Zeitung auf der Theke. Der Leitartikel trägt den Titel Kein Fortschritt im Winzermord! Kripo tappt im Dunkeln! Reporter Uwe Baier versucht auf die Senstationsmasche der Bildzeitung einzusteigen: Ein Psychopath, der im Ausland bereits die traurige Berühmtheit des Kannibalen von Rotenburg erlangt habe, laufe frei in Wiesbaden herum und die Kripo lege die Hände in den Schoß. Die Hälfte der Belegschaft sei krank bzw. auf Weiterbildung oder im Sabbatical. Der Artikel, der die ganze Seite in Anspruch nimmt, schließt mit der Vermutung, dass der Täter wahrscheinlich im familiären Umfeld zu suchen sind.
Ich tätschele Fabrizio und laufe heim. Die Essenstüte landet bis auf ein Tomatenciabatta unausgepackt im Eisschrank. Erfolglos versuche ich, Schorndorf auf dem Handy zu erreichen. Dann probiere ich es bei unserem marokkanischen Praktikanten Zaki Kaplan. Erst habe ich seine kleine Schwester Fippy dran – der Bursche lebt noch zu Hause – dann die große, dann die Mutter (die kein deutsch kann) und schließlich die Tante. Kurzes Geplänkel, wie sich Zaki bei der Polizei macht – „Hervorragend, er ist uns eine große Stütze, aber könnte ich ihn jetzt wohl sprechen?“ – dann habe ich Kaplan endlich am Apparat.
„Hey Kollege! Was macht Berlin? Cool, ha? Wenn ich mit der Ausbildung durch bin, gehe ich auch hoch. Knüpfst du da Kontakte? Wäre super, wenn du mir helf...“
„Ich bin in WIESBADEN, Zaki.“
„Was? Haben sie dich kleingekriegt?“
„Hagenmeister hat mir die Hölle heiß gemacht ...
Kaplan lacht dröhnend. „Hagenmeister macht immer allen die Hölle heiß! Unter uns, es ist der Angstschweiß, dass wirs nicht hinkriegen. Dass das BKA den Fall an sich reißt. Das wächst sich zu einer echten PSYCHOSE bei ihm aus ....“ Er seufzt tief auf.
„Hast du heute Abend Zeit? Ich würde gern wissen, wie weit ihr mit dem Fall seid, bevor Hagenmeister mich zumüllt. Er mäandert immer von Verdächtigem zu Verdächtigem, ohne zum Punkt zu kommen. Um acht im Rheingold? Isabelle kommt auch.“
„Um acht? Passt.“
„Kannst du versuchen, Schorndorf zu erreichen? Ich krieg ihn nicht ans Handy. Ich will zu dieser Exfrau fahren, dieser Evelyn ... und dann zu dieser Tochter ... Nadja ...“
„Gute Idee. Da kriegst du einen guten Eindruck von diesen Leuten.“
Anobella - 26. Mär, 13:38
8
Ich möchte mal wissen, welchem Kommissar die Ermittlungsarbeit Spaß macht. Ich kenne keinen. Du rennst rum und fischst im Trüben, und wenn man einen Vorgesetzten hat, der findet, dass man das Ding in Lichtgeschwindigkeit gelöst haben soll, damit das BKA ihn auf keinen Fall anruft und sich in seine Kompetenzen einmischt, reichts mir gleich noch mal.
„... glaube ich nicht, dass Leichhardt in Wiesbaden ist! Er ist noch in Berlin! Sie decken ihn, Schorndorf! Wenn er hier WÄRE, wäre er schon längst aufgetaucht. Es ist MONTAG MITTAG!“
„Chef, er ist da, ich schwörs! Leichhardt IST in Wiesbaden! Er wollte heute früh bei Nadja Rautenberg vorbei und was weiß ich, was dann passierte. Sie wissen ja, wie er ist. Er folgt seinen Eingebungen. Die können ihn aber schon mal am Präsidium vorbei ins Thermalbad führen. Scheeeeeerz ... Wir haben gestern noch zu viert in der Kneipe gesessen, Isabelle und Kaplan waren auch dabei. Gell, Kaplan?“
„Was?“
Ich schiebe die Tür ein Stück weiter auf. Kaplan chillt in liegender Haltung hinter seinem Rechner.
„Setz dich gerade hin! Leichhardt ist da!“
„Na aber hallo! Wir haben Chemie gelernt, Chef.“
„Das freut mich natürlich, Herr Kaplan. Diese drei minus letztens war inakzeptabel. Aber warum sagt mir keiner Bescheid? Warum werde ich nicht eingeladen?“
„Zum Chemielernen?“
„ZU DER BESPRECHUNG!“
„Aber Chef“, lacht Schorndorf, „wir wissen doch, wie wichtig Ihnen Ihr Wochenende ist ... nicht im Traum würde uns einfallen, Sie da zu stören ... “
Ich gehe auf Zehenspitzen in die Toilette und rufe Kaplan an. Der Bursche soll mir meinen Kulturbeutel und einen Kaffee bringen.
Kurze Zeit später zwängt sich der Praktikant mit einem Kaffee durch die Tür. Mein Nacken kracht, als ich mich nach ihm umdrehe.
„Hör mal, ich freue mich, dass du wieder da bist, Leichhardt, wirklich ... Aber du kannst einen zum Wahnsinn treiben, bei allem Respekt ... Kannst du nicht wie ein normaler Mensch durch die Tür kommen? ... Was soll diese Geheimniskrämerei? ... Hagenmeister fragt uns Löcher in den Bauch wegen dir!“
Ich betrachte mein Gesicht im Spiegel. Unter dem grellen Licht der Neonlampe sehe ich so aus, als ob ich schon seit drei Tagen tot wäre.
„Und da wir gerade dabei sind. Ihr tut so, als ob nur ich einen an der Klatsche hätte“, fährt Kaplan fort. „Aber ihr habt ALLE einen an der Klatsche. Das wollte ich nur mal gesagt haben.“
„Okay, du hast es gesagt. Gib mir den Kaffee. Was ist das für eine laue Brühe? Ich kann den Boden sehen.“
„Hat Hagenmeister gekocht. Der Automat ist kaputt.“
Ich trinke seufzend den Kaffee in einem Zug aus.Von dem faden Zeug brauche ich noch drei, um in Schwung zu kommen. Ich fange an, mich zu rasieren.
Das Kaplanparlando dauert an, während ich anfange, mich zu rasieren:
„Hagenmeister mit seinem Wagen, gell. Heute Morgen hat er mir wieder erzählt, wieviel seine Karre auf 100 Kilometer verbraucht. Als ob ichs nicht schon fünfundvierzig Mal gehört hätte. Das interessiert mich nicht, ich sags ihm dauernd, aber er redet einfach weiter. Immer hab ich seine Stimme im Ohr mit BMW hier und BMW da. Wenn ich mit ihm verheiratet wär, würde ich verrückt werden!“
„Bist du aber nicht. Hör zu, Kollege ... lenk Hagenmeister ein bisschen ab, wenn ich rein komme! Ich will erst mal gucken, was auf meinem Schreibtisch liegt. Danach komme ich einfach durch die Tür.“
„Ihn ablenken? Wie denn?!“ Kaplan zieht eine Fratze.
„Keine Ahnung! Sag ihm, dass du eine Entdeckung gemacht hast!
„Eine Entdeckung? Was für eine Entdeckung ... ich entdecke nichts ... kein Funkenflug in meinem Hirn ... ich hänge ECHT in der Scheiße mit meinen Prüfungen.“
Ich schiebe ihn zur Tür raus und fahre mit der Hand über meine rasierte Wange. Dann kontrolliere ich mein Aussehen im Spiegel und folge ihm.
Als ich das Büro betrete, scheppert Kaplans Kaffeetasse zu Boden und alle Blicke heften sich auf ihn.
„Herrgott, kannst du nicht aufpassen!“, brüllt Schorndorf. „Ich krieg zu viel!“
Kaplan sammelt seine Tasse wieder ein und ich gleite an meinen Schreibtisch hinter der Stellwand. An meinem Bildschirm kleben lauter Wo sind Sie?-Haftzettel von Hagenmeister und das Papier türmt sich uferlos auf meinem Schreibtisch hoch. Als wolle keiner wahrhaben, dass ich nicht da bin. Vernehmungsprotokolle, Berichte, Zeitungsartikel, Memoranden, Aktennotizen. Die Kollegen laden ihren ganzen Kram auf meinem Schreibtisch ab. Ich grabe mir einen Tunnel durch das Zeug und fahre meinen Rechner hoch. Mein Postfach platzt aus allen Nähten. 86 meiner Mails sind Spam, 12 aus der Mailingliste des Polizeisportvereins („Wo sind Sie?“) vier von Hagenmeister. Die letzte schickte er vor einer Stunde:
Von: Chef@KripoWiesbaden.de
An: Leichhardt@KripoWiesbaden.de
Betreff: Staatsanwalt nervt
Lieber Kollege Leichhardt!
Wo sind Sie? Es kursieren Gerüchte, Sie seien in Wiesbaden. Allein mir fehlt der Glaube. Der Staatsanwalt steht mir auf den Füßen. O. H.
Ich werfe einen Blick über die Stellwand. In der einen Ecke diskutiert O.H. mit jemandem über den mickrigen Haushalt der Hessischen Landesregierung, in einer anderen legt Kaplan Schorndorf einen Brief vor, den er, ohne einen Blick darauf zu werfen, unterschreibt. Dann versucht Kaplan vergeblich, ins Netz zu kommen und ruft in die Weite des Präsidiums: „Was nützen uns schnellere Internetzugänge, wenn unsere Computer so alt sind?!“ Ein Telefon klingelt, Schorndorf geht ran. Eine Weile hört er zu, dann sagt er: „Gut, ich richte es aus!“ Er wartet, bis Hagenmeister mit seinem Telefonat fertig ist und berichtet von dem Anruf des Staatsanwalts: „Er wünscht Erkenntnisse, auf der Basis von Fakten und Informationen. Nicht die übliche Kaffeesatzleserei ... kein Tunnelblick ...“
Hagenmeister spuckt. „Dem bereite ich jetzt ein für allemal ein Ende!“
An diesem Projekt arbeitet er seit fünf Jahren.
Beim Rausgehen entdeckt er mich.
„LEICHHARDT! Da sind Sie ja!“ Er schaut mich mit einer Mischung aus Wiedersehensfreude und Ärger an. „Warum sagen Sie nichts? WARUM MELDEN SIE SICH NICHT?“
Ich versuche, auf ihn scharf zu stellen, aber es gelingt mir nicht. Ich zeige auf das Chaos auf meinem Schreibtisch. „Ich versuche, diesen MIST hier zu ordnen, den mir alle auf den Tisch legen ...“
Er wirft die Arme hoch. „Sie versuchen, zu ordnen! Könnten Sie sich bitte auf das WESENTLICHE konzentrieren? Haben Sie meine Zettel nicht gelesen? Meine Mails?“
„Doch. Aber was mich wirklich interessiert ...“
„Ja?“
Eine vage Hoffnung, dass ich den Fall schon gelöst haben könnte, glimmt in seinen Augen auf. Er tritt näher.
„Wie werde ich jetzt bezahlt? Läuft das als Überstunden? Weil ich ja noch im Sabbatical bin.“
„Das ist jetzt mein geringstes Problem ...!“, faucht er.
„Ihrs nicht, aber meins schon. Soll ich Belege sammeln?“
„ICH WEISS NICHT!“
„Zu Hause den Stromzählerstand ablesen? Es ist ja heutzutage alles eine Energiefrage.“
„WARUM HABE ICH IHN ZURÜCKGEHOLT?“, fragt Hagenmeister das Universum.
„Und ich bin mit dem ZUG gefahren. Ich brauche einen Leihwagen! Organisieren SIE das?“
„Ich muss zum Staatsanwalt!“, knurrt Hagenmeister.
„Ich nehme auch einen Streifenwagen. So ist es nicht.“
„Die Beamten werden Ihnen was husten. Keiner wird Ihnen sein hochspezialisiertes Fahrzeuge anvertrau...“
„Dann eben ein Leihwagen. Was größeres bitte. Falls ich was sicherstellen muss. Sonst kann ich hier nicht arbeiten.“
Anobella - 26. Mär, 06:23