Die 4.
(4)
Am nächsten Morgen war Edmund als erster im Amt. Noch bevor die Kollegen eintrafen, fuhr er seinen Rechner hoch und erlebte eine Überraschung. Der Austausch im Netz ging nachts erst richtig los. Das Kafkathema hatte jetzt 124 Antworten, aber von Kafka war längst nicht mehr die Rede. Morgens um halb drei hatten die Leute aufgehört zu diskutieren: „Schlaf schön, ich muss früh raus!“, stand als letztes Posting da, von irgendeiner Uli an irgendeinen Peter.
Lauter Mails von Axel waren eingetroffen, mit fortschreitendem Abend waren sie immer kürzer geworden. Er las die letzte zuerst. Are you ready? stand da; wozu, erfuhr Edmund in der nächsten Nachricht, nämlich der Kafka-Philosoph-Mailingliste. Mail Nummer Drei stellte die Frage: Versprichst du dir als Philosoph kreativen Input vom Einsatz digitaler Netztechniken?, und Nummer Vier erklärte: Mein Zeitfenster ist riesig! Ich schicke dir erst mal die Inhaltsangabe meines Wahrheitsbuchs!
Wahrheitsbuch? Zeitfenster? Edmund hatte keine Ahnung, wovon Axel redete. Die Erklärung fand er im angehängten Dokument: Der Bursche schickte ihm ein Manuskript über die Frage, ob die Wahrheit wahr war oder nur ein Spiel. Wenn nur ein Spiel, gab es die Lüge nicht, das die zentrale These. Dazu bitte Edmunds Meinung, Zeitfenster wie gesagt riesig, Axel wollte nach Edmunds Überarbeitung das Manuskript Ende nächsten Monats an einen Verlag im Thüringischen schicken.
Das Manuskript war geschätzte 450 Seiten lang und die Fußnoten nahmen mehr als die Hälfte des Textes ein. Edmund überflog das Inhaltsverzeichnis: Geschichte der Wahrheit, Wahrheit als Herrschaftsinstrument, Wahrheit als Stütze politischer, kolonialer und kultureller Machtansprüche, Wahrheit in der Metaphysik, in der Rechtsprechung, in der Abtreibungsfrage. Axel beanspruchte seine ungeteilte Aufmerksamkeit – Edmund blickte auf den Kalender – für die nächsten sechs Wochen.
Er ächzte. Bing!
Hallo Edmund! Du gehörst einer E-Mail-Group an, die sich mit dem Thema Kafka_als_Philosoph befasst. Verständnisfragen, Anmeldung, Passwort für die Mailingliste bitte per Mail an AxelCremer@philosophieforum.de.
Edmund suchte in der Liste nach interessanten Namen aus der Publizistik oder den Geisteswissenschaften, aber Fehlanzeige. Stattdessen stieß er auf Phantasienamen wie Lulu Wirbelwind oder Charlie Brown oder Der Eskalator. Damit, erkannte er hellsichtig, ließ sich an Universitäten kein Lorbeerkranz gewinnen.
Mit einem Kaffee in der Hand war die Praktikantin Stella an seinen Schreibtisch getreten. „Was treibst du eigentlich, Edmund?“ Rasch klickte er auf eine Excel-Tabelle und begann, Zahlen zu bearbeiten. Natürlich zu spät, Stella hatte mit einem Blick auf seine Menüleiste längst entdeckt, dass er auf einem Forum namens Philosophie aktuell unterwegs war.
„Wir müssen für die Abteilungsbesprechung alles fertig machen“, mahnte sie.
„Tatsächlich?“ Edmund sah Stella nichts fertigmachen, sondern nur an seinem Schreibtisch herumstehen.
„Es hätte schon gestern fertig sein sollen“, spezifizierte sie.
„Alles soll schon immer gestern fertig sein, Kollegin, mach dich locker! Nur kein Stress!“
Mit hochgezogenen Augenbrauen schlenderte sie in ihr Büro zurück. Zugegeben, Stella war im Vergleich zu ihm viel effektiver. Sie erledigte Aufgaben eineinhalb Mal so schnell wie er und war schon um elf mit ihrem Tagespensum durch (momentan der Eingabe von Kundendaten in den Computer). Er musste aufpassen, dass sie nicht mit der mit Zeit zu einem Problem für ihn wurde. Sie versuchte dauernd, sich auf seine Kosten vor der Chefin zu profilieren. Während Stella wieder auf die Tastatur einhämmerte, las Edmund den ersten Absatz von Axels Manuskript:
Die zeitgenössische Philosophie steht vor einem schwer zu lösenden Problem: Sie hat die Relativität der erkenntnistheoretischen Systeme erkannt und kann die Wahrheit als Kriterium des Denkens nicht mehr gelten lassen. Die Naturwissenschaften haben die Geisteswissenschaften vor die Erkenntnis gestellt, dass es keine statische Wirklichkeit gibt und der Mensch keine objektive Wahrnehmung besitzt. Damit ist dem Menschen die Grundlage für den Anspruch auf Wahrheit entzogen. Philosophen, die sich dieser Problematik bewusst waren, schlugen den ruhigen Freitod des Denkens vor.
Ruhiger Freitod des Denkens. Der Text klang so, wie Edmund Axel einschätzte. Ein bisschen richtig, ein bisschen falsch, ein bisschen nervend. Er überlegte, ob er einfach so tun sollte, als ob er das Buch läse. Nach dem Zufallsprinzip pro Kapitel einen Abschnitt heraussuchen und etwas dazu schreiben? Er begann zu tippen:
Interessanter Ansatz, Axel! Es erinnert mich an das, was der amerikanische Pragmatist William James einmal zum Thema Wahrheit geschrieben hat: Unsere Verpflichtung, die Wahrheit zu suchen, ist nur ein Teil unserer allgemeinen Verpflichtung, das zu tun, was sich lohnt. Mit anderen Worten: Wahr ist, was funktioniert.
Superzitat, passte immer. Edmund drückte auf die Entertaste. Mal sehen, ob er so Axel ruhig stellen konnte.
Am nächsten Morgen war Edmund als erster im Amt. Noch bevor die Kollegen eintrafen, fuhr er seinen Rechner hoch und erlebte eine Überraschung. Der Austausch im Netz ging nachts erst richtig los. Das Kafkathema hatte jetzt 124 Antworten, aber von Kafka war längst nicht mehr die Rede. Morgens um halb drei hatten die Leute aufgehört zu diskutieren: „Schlaf schön, ich muss früh raus!“, stand als letztes Posting da, von irgendeiner Uli an irgendeinen Peter.
Lauter Mails von Axel waren eingetroffen, mit fortschreitendem Abend waren sie immer kürzer geworden. Er las die letzte zuerst. Are you ready? stand da; wozu, erfuhr Edmund in der nächsten Nachricht, nämlich der Kafka-Philosoph-Mailingliste. Mail Nummer Drei stellte die Frage: Versprichst du dir als Philosoph kreativen Input vom Einsatz digitaler Netztechniken?, und Nummer Vier erklärte: Mein Zeitfenster ist riesig! Ich schicke dir erst mal die Inhaltsangabe meines Wahrheitsbuchs!
Wahrheitsbuch? Zeitfenster? Edmund hatte keine Ahnung, wovon Axel redete. Die Erklärung fand er im angehängten Dokument: Der Bursche schickte ihm ein Manuskript über die Frage, ob die Wahrheit wahr war oder nur ein Spiel. Wenn nur ein Spiel, gab es die Lüge nicht, das die zentrale These. Dazu bitte Edmunds Meinung, Zeitfenster wie gesagt riesig, Axel wollte nach Edmunds Überarbeitung das Manuskript Ende nächsten Monats an einen Verlag im Thüringischen schicken.
Das Manuskript war geschätzte 450 Seiten lang und die Fußnoten nahmen mehr als die Hälfte des Textes ein. Edmund überflog das Inhaltsverzeichnis: Geschichte der Wahrheit, Wahrheit als Herrschaftsinstrument, Wahrheit als Stütze politischer, kolonialer und kultureller Machtansprüche, Wahrheit in der Metaphysik, in der Rechtsprechung, in der Abtreibungsfrage. Axel beanspruchte seine ungeteilte Aufmerksamkeit – Edmund blickte auf den Kalender – für die nächsten sechs Wochen.
Er ächzte. Bing!
Hallo Edmund! Du gehörst einer E-Mail-Group an, die sich mit dem Thema Kafka_als_Philosoph befasst. Verständnisfragen, Anmeldung, Passwort für die Mailingliste bitte per Mail an AxelCremer@philosophieforum.de.
Edmund suchte in der Liste nach interessanten Namen aus der Publizistik oder den Geisteswissenschaften, aber Fehlanzeige. Stattdessen stieß er auf Phantasienamen wie Lulu Wirbelwind oder Charlie Brown oder Der Eskalator. Damit, erkannte er hellsichtig, ließ sich an Universitäten kein Lorbeerkranz gewinnen.
Mit einem Kaffee in der Hand war die Praktikantin Stella an seinen Schreibtisch getreten. „Was treibst du eigentlich, Edmund?“ Rasch klickte er auf eine Excel-Tabelle und begann, Zahlen zu bearbeiten. Natürlich zu spät, Stella hatte mit einem Blick auf seine Menüleiste längst entdeckt, dass er auf einem Forum namens Philosophie aktuell unterwegs war.
„Wir müssen für die Abteilungsbesprechung alles fertig machen“, mahnte sie.
„Tatsächlich?“ Edmund sah Stella nichts fertigmachen, sondern nur an seinem Schreibtisch herumstehen.
„Es hätte schon gestern fertig sein sollen“, spezifizierte sie.
„Alles soll schon immer gestern fertig sein, Kollegin, mach dich locker! Nur kein Stress!“
Mit hochgezogenen Augenbrauen schlenderte sie in ihr Büro zurück. Zugegeben, Stella war im Vergleich zu ihm viel effektiver. Sie erledigte Aufgaben eineinhalb Mal so schnell wie er und war schon um elf mit ihrem Tagespensum durch (momentan der Eingabe von Kundendaten in den Computer). Er musste aufpassen, dass sie nicht mit der mit Zeit zu einem Problem für ihn wurde. Sie versuchte dauernd, sich auf seine Kosten vor der Chefin zu profilieren. Während Stella wieder auf die Tastatur einhämmerte, las Edmund den ersten Absatz von Axels Manuskript:
Die zeitgenössische Philosophie steht vor einem schwer zu lösenden Problem: Sie hat die Relativität der erkenntnistheoretischen Systeme erkannt und kann die Wahrheit als Kriterium des Denkens nicht mehr gelten lassen. Die Naturwissenschaften haben die Geisteswissenschaften vor die Erkenntnis gestellt, dass es keine statische Wirklichkeit gibt und der Mensch keine objektive Wahrnehmung besitzt. Damit ist dem Menschen die Grundlage für den Anspruch auf Wahrheit entzogen. Philosophen, die sich dieser Problematik bewusst waren, schlugen den ruhigen Freitod des Denkens vor.
Ruhiger Freitod des Denkens. Der Text klang so, wie Edmund Axel einschätzte. Ein bisschen richtig, ein bisschen falsch, ein bisschen nervend. Er überlegte, ob er einfach so tun sollte, als ob er das Buch läse. Nach dem Zufallsprinzip pro Kapitel einen Abschnitt heraussuchen und etwas dazu schreiben? Er begann zu tippen:
Interessanter Ansatz, Axel! Es erinnert mich an das, was der amerikanische Pragmatist William James einmal zum Thema Wahrheit geschrieben hat: Unsere Verpflichtung, die Wahrheit zu suchen, ist nur ein Teil unserer allgemeinen Verpflichtung, das zu tun, was sich lohnt. Mit anderen Worten: Wahr ist, was funktioniert.
Superzitat, passte immer. Edmund drückte auf die Entertaste. Mal sehen, ob er so Axel ruhig stellen konnte.
Anobella - 20. Jun, 09:38