Spannung, Spannung, Spannung. DPR macht mich verrückt. Ist das spannend, was ich schreibe?
*argwöhnisch
**frägt
(Mein erstes Kapitel.)
Sprachlos starrte Edmund auf seinen Monitor. Dieser Axel schrieb etwas von der Gründung eines philosophischen Zirkels, mit handverlesenen Mitgliedern, unter anderem ihm, Edmund. Letzte Nacht hatte er versucht, ihm klar zu machen, dass er das nicht wollte. Nicht wünschte. Nicht jetzt. Nicht später. Aus jeder Zeile seiner Mail schrie es Axel entgegen, dass ihn das alles nervte. Dass er seine Ruhe haben wollte. Und dass Axel es vor allem nie mehr wagen sollte, bei ihm zu Hause aufzutauchen. Wie schon geschehen. Axels Antwort – Edmunds Blick wanderte zum Zeitstempel der Mail – war um drei Uhr morgens gekommen: Er hätte das ganze Wochenende Nietzsche gelesen und dabei ununterbrochen an Edmund gedacht. An das, was er über die Ewige Wiederkehr gesagt habe. Edmund grunzte. Das Einzige, was ewig wiederkehrte, waren Axels Mails.
1
Er hatte Axel im Spätsommer kennengelernt. Damals wollte er eine These über Franz Kafka im Netz platzieren: Er sei einer der größten deutschsprachigen Literaten gewesen, aber nicht nur das, sondern auch ein herausragender Philosoph. Wusste nur keiner. Oder realisierte keiner. Der Philosoph Kafka musste von dem Literaten Kafka abgekoppelt werden.
„Kein Problem“, hatte sein Freund Udo gesagt, „es ist kinderleicht, im Netz zu publizieren! Ich helfe dir, dich zu vergoogeln; wenn du heutzutage bei der Eingabe deines Namens in Suchmaschinen nichts passiert, machst du was falsch.“
„Das Internet, ich weiß nicht ...“
„Probier es aus!“
„... scheint mir eine künstliche Welt zu sein ...“
„Aus-pro-bieren!“
„... unübersichtlich und chaotisch ...“
„MACH JETZT!“
Als Edmund widerstrebend seinen Namen in die Suchmaschine eingegeben hatte, fand er nur einen Edmund Görtz, der einer Handballmannschaft in Leipzig angehörte. Das ging natürlich nicht.
Udo erzählte ihm, wie er kürzlich eine Platte von John Coltrane auf einer Plattform aufgetrieben hatte: Zwanzig Jahre lang hatte er danach gesucht, alle Plattenläden danach abgegrast, in Deutschland, Frankreich, den Staaten. Im Netz hatte er sie endlich gefunden, dort mit nur einem Tastenklick, und mit einem weiteren war sie bestellt gewesen. „Und dann hat es drei Wochen gedauert, bis sie da war. Stell dir vor – sie kam aus Hongkong! Unvorstellbar – du drückst auf ein Button und irgendein Bursche in China fängt an, seine Bestände zu durchforsten, etwas zusammenzupacken und loszuschicken! Gran-di-os!“
Voller Neugier war Edmund online gegangen. Eine Woche lang trieb er sich im Netz herum, um herauszufinden, was es alles zu Kafka gab: Eine ganze Menge. Kafkaseiten, Kafkaforen, Kafkablogs. Ein Link führte zum anderen und es war für Edmund nicht ganz leicht, sich in dem Gewirr zurechtzufinden. Dennoch: Was er suchte, fand er nicht. Den Philosophen Franz Kafka. Den Schriftsteller ja, den Philosophen nicht. Super. Nicht auf einer einzigen philosophischen Plattform war der Name Kafka verzeichnet.
Besser konnte es nicht laufen. Er registrierte sich auf einem geisteswissenschaftlichen Forum und machte ein Thema mit dem Titel Kafka, der Philosoph auf. Als Zitat stellte er dazu:
Wie kann man sich über die Welt freuen, wenn man sich nicht zu ihr flüchtet?
Ein minimalistischer Einstieg, kurz und bündig, klar und tief. Kafka eben. Gespannt blieb Edmund am Bildschirm sitzen und fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis die ersten Kommentare eintrafen. Ob es wirklich so schnell ging, wie Udo behauptete? Seine größte Befürchtung war, dass jemand im Netz bereits diese These vertrat; seine größte Hoffnung, dass in Zukunft Franz Kafka auch im Buchladen als Philosoph zu haben sei. Dank ihm, dank Edmund. Zwischen Habermas und Kant einsortiert würde. Weltweit würden alle germanistischen und philosophischen Fakultäten aus-ras-ten, und erst die Kafkagesellschaften!
Immer wieder drückte er auf die Aktualisierungstaste, und tatsächlich traf nach einer Viertelstunde ein erster Kommentar ein, die von eben diesem Axel Cremer stammte: Kafka, ein Philosoph? Interessant! Er mache einen Sekundärthread dazu auf, um den Gedanken großräumiger auszuspinnen und weiter zu diskutieren. Hier sei der Link: Grenzgänger, Achtung! Literat Kafka als Philosoph!
Edmund klickte darauf. Er konnte keinen großen Unterschied zu seinem eigenen Thema erkennen und fragte sich, was das sollte. Schließlich zuckte er mit den Schultern. Er kannte sich im Netz nicht gut genug aus, um das richtig einordnen zu können: Vielleicht lief es unter der Rubrik Unterstützung von Newcomern.
Er ging in die Küche und machte sich erst mal Frühstück. Als er mit dem Tablett in der Hand an seinen Rechner zurückkehrte, fand er Axel schon auf seiner Privatmail: Seine Kafka-These sei weitergewandert, hierhin und dorthin, bitte mal nachschauen. Edmund biss in sein Marmeladenbrötchen und klickte den beiden Hinweisen hinterher: Seine These stand schon auf vier verschiedenen Plattformen, zwei Foren, zwei Blogs. Er blickte zur Uhr: Es war noch keine Stunde her, dass er sein Debüt im Netz gegeben hatte und schon mäanderte er durch das World Wide Web. Es war genauso, wie Udo es geschildert hatte ... aber war es auch gut? Auf einem Philosophieblog begann eine Kafkakoryphäe der Uni Göttingen schon unbequeme Fragen an Edmund zu stellen: Woher hatte er sein Zitat? Kam es von Max Brod? Wenn ja, war es dubios: Max Brod hatte Kafka geschwärzt (es folgte ein Brod-Bashing), und war er Kafkas eigener Orthografie gefolgt oder hatte er sie modernisiert (es folgte ein Bashing der neuen Kafka-Ausgabe).
Ratlos betrachtete Edmund den Bildschirm. Prost Mahlzeit. Das fing ja fabelhaft an. Kaum hatte er im Netz Guten Tag gesagt, fielen alle schon über ihn her. Der Betreiber des Philosophieforums hatte dank seiner IP-Nummer (das war die Identifikationsnummer seines Rechners, lernte Edmund) bereits herausgefunden, dass er in Frankfurt lebte. Blogger aus dem Rhein-Main-Gebiet meldeten sich auf seiner Mail: Sie würden sich freuen, ihn kennenzulernen, sie seien zwar nur ein kleines Trüppchen – Blogger eben – aber authentisch und rhizomatisch verzweigt. Träfen sich alternierend mal im Café Gegenwart, mal in der Volkswirtschaft. Wenn Edmund Lust hätte: Er sei herzlich für den nächsten Donnerstag eingeladen.
Edmund hatte überhaupt keine Lust. Rhizomatisch verzweigt, wenn er den Quatsch schon hörte! Die Bauten von Ratten waren rhizomatisch verzweigt, und die von Ameisen: So sah´s aus. Die französische Philosophie hatte in den Achtzigern alles, was ihr unter die Feder gekommen war, rhizomatisch verzweigt, selbst die einfachsten Subjekt-Prädikat-Objekt-Sätze, und seitdem war in Deutschland kein klarer Gedanke mehr zu fassen. Sicher, auch er, Edmund, hatte sich damals wie ein Verdurstender auf die shooting stars der Geisteswissenschaften gestürzt, aber schnell war es ihm zu postmodern, zu beliebig geworden. Eben zu rhizomatisch. Übrigens hatten die Franzosen sich mit dem Rhizomatischen auf Kafka bezogen: Das Schloss sei rhizomatisch, und Amerika und der Prozess auch. Das war zwar alles natürlich richtig, aber Kafka war damit keineswegs glücklich gewesen, sondern eben daran gescheitert. Er hatte keinen einzigen seiner Romane fertig geschrieben, war ausgeufert und zerfasert, und hatte sich lieber der kleinen Form zugewandt.
Trotzdem. Hier schloss sich der Kreis für Edmund, und er hatte das Gefühl, das Richtige getan zu haben, als er mit seinem Zitat ins Netz gegangen war. Obwohl es ihn nervte, dass alle schon wussten, wie er hieß und wo er wohnte und dass diese Göttinger Universitätskoryphäe seine Integrität anzweifelte. Ihn anblaffte, er solle seine Quellen besser studieren, bevor er im Netz Kafka verwurste. Und überhaupt, Urheberrecht und falsches Zitat und besser recherchieren und Edmund nur ein peinlicher Amateur.
Edmund bewahrte einen kühlen Kopf und schrieb eine Mail an Axel Cremer, strikt im „Sie“ bleibend: Danke für Ihre Hilfe und Ihren Enthusiasmus, das ging ja schnell – zu schnell? – aber wenn man Kafkas Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande in einem eigenen Buch isoliert herausbrächte, dann käme sicher ein feines, eigenes, philosophisches Werk heraus. Wir lesen uns auf dem Forum, Liebe Grüße, unterschrieb Edmund, nicht zuletzt, um den Kerl von seiner Mail runter zu kriegen.
Dann ging er in den Garten raus, eine rauchen. Es war ein trüber Novembertag und er konnte kaum die gegenüberliegende Hauswand erkennen. Die Nachbarn standen gerade rundum auf. Einer hustete im Bad, als würde er seine Eingeweide ins Waschbecken auskippen, ein anderer hackte auf sein Telefon ein, als gälte es sein Leben. Edmund seufzte. Er wünschte sich so sehr, sich ein kleines Haus auf dem Land leisten zu können, zusammen mit Miriam, seiner Freundin. Nicht zuletzt deswegen wollte er diese Kafkageschichte vorantreiben. Aber alles war liegengeblieben ...
Er trat mit seinem Stiefel seine Kippe aus und kehrte an den Computer zurück. Wieder war eine Antwort von Axel da: Zwischen ihm und Edmund herrsche eine Seelenverwandtschaft, die sich schon in ihrem ersten Mailwechsel zeige, und ja, Nietzsche sei der Hellsichtigste unter den deutschen Philosophen gewesen. Keiner so kristallklar wie Nietzsche; abgesehen von Kafka natürlich, falls Edmunds These sich erhärten sollte.
Kristallklar. Das konnte man von Axels Mails nicht gerade behaupten. Auf eine perfide Art drehten sich seine Sätze um sich selbst, sodass Edmund ständig den Faden verlor. Im Forum würden alle verrückt deswegen, konnte er nachlesen und Axel musste harsche Kritik wegen seiner Beiträge einstecken. Er schreibe wie Sloterdijk, behaupteten die Leute, und das war nicht als Kompliment gemeint.
Langsam kamen Edmund Zweifel, ob es tatsächlich so vorteilhaft war, dass Axel ihn promotete. Sein Ruf im Netz schien nicht der Allerbeste zu sein. Halt die Klappe, Axel!, schrieben sie. Musst du zu jedem Thema deine Meinung reinsenfen? Willst du Edmund fertig machen?
Axel wollte ihn fertigmachen? Aufgescheucht suchte Edmund zwanzig Minuten nach einer missliebigen Bemerkung von ihm im Netz herum, aber ohne Ergebnis. In der Zwischenzeit verbuchte Axel hinter den Kulissen die Angriffe unter schlechter Kinderstube ihrer Verfasser, sie seien mediokre Kleingeister, ganz anders als Edmund und er.
Edmund und er? Er kannte diesen Typ erst seit zwei Stunden und es war ihm ein Rätsel, woher Axel dieses Zusammengehörigkeitsgefühl nahm. Dann schalt er sich für sein Misstrauen. Nur weil Cremer ihm auf die Nerven ging, sollte er nicht die Schotten dicht machen. Er sollte das Ganze erst mal auf sich wirken lassen. Aber wie kontrollieren, was mit seiner These im Netz geschah? Sein Eintrag war so schlank gewesen und trotzdem hatte er diese Flut von Antworten ausgelöst, die nicht nur positiv waren. Meistenteils ja, aber einige hatten auch so reagiert, als hätte Edmund in ein Wespennetz gestochen.
Er überlegte, was seine Kollegen sagen würden, wenn sie ihn online entdeckten. Die Freunde. Die Familie. Er hatte sich mit seinem eigenen Namen angemeldet, ob das so klug gewesen war? Seine Adresse stand im Telefonbuch und er lebte in einer Gartenwohnung. Jeder Irre konnte bei ihm einsteigen. Nicht auszudenken, dass eines Tages mal so einer – Überraschung! – vor seiner Tür stünde und ihn besuchen wollte. Dieser Bockenheimer Bloggerstammtisch wusste jedenfalls schon genau, wo Edmund zu detektieren war.
**frägt
(Mein erstes Kapitel.)
Sprachlos starrte Edmund auf seinen Monitor. Dieser Axel schrieb etwas von der Gründung eines philosophischen Zirkels, mit handverlesenen Mitgliedern, unter anderem ihm, Edmund. Letzte Nacht hatte er versucht, ihm klar zu machen, dass er das nicht wollte. Nicht wünschte. Nicht jetzt. Nicht später. Aus jeder Zeile seiner Mail schrie es Axel entgegen, dass ihn das alles nervte. Dass er seine Ruhe haben wollte. Und dass Axel es vor allem nie mehr wagen sollte, bei ihm zu Hause aufzutauchen. Wie schon geschehen. Axels Antwort – Edmunds Blick wanderte zum Zeitstempel der Mail – war um drei Uhr morgens gekommen: Er hätte das ganze Wochenende Nietzsche gelesen und dabei ununterbrochen an Edmund gedacht. An das, was er über die Ewige Wiederkehr gesagt habe. Edmund grunzte. Das Einzige, was ewig wiederkehrte, waren Axels Mails.
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Er hatte Axel im Spätsommer kennengelernt. Damals wollte er eine These über Franz Kafka im Netz platzieren: Er sei einer der größten deutschsprachigen Literaten gewesen, aber nicht nur das, sondern auch ein herausragender Philosoph. Wusste nur keiner. Oder realisierte keiner. Der Philosoph Kafka musste von dem Literaten Kafka abgekoppelt werden.
„Kein Problem“, hatte sein Freund Udo gesagt, „es ist kinderleicht, im Netz zu publizieren! Ich helfe dir, dich zu vergoogeln; wenn du heutzutage bei der Eingabe deines Namens in Suchmaschinen nichts passiert, machst du was falsch.“
„Das Internet, ich weiß nicht ...“
„Probier es aus!“
„... scheint mir eine künstliche Welt zu sein ...“
„Aus-pro-bieren!“
„... unübersichtlich und chaotisch ...“
„MACH JETZT!“
Als Edmund widerstrebend seinen Namen in die Suchmaschine eingegeben hatte, fand er nur einen Edmund Görtz, der einer Handballmannschaft in Leipzig angehörte. Das ging natürlich nicht.
Udo erzählte ihm, wie er kürzlich eine Platte von John Coltrane auf einer Plattform aufgetrieben hatte: Zwanzig Jahre lang hatte er danach gesucht, alle Plattenläden danach abgegrast, in Deutschland, Frankreich, den Staaten. Im Netz hatte er sie endlich gefunden, dort mit nur einem Tastenklick, und mit einem weiteren war sie bestellt gewesen. „Und dann hat es drei Wochen gedauert, bis sie da war. Stell dir vor – sie kam aus Hongkong! Unvorstellbar – du drückst auf ein Button und irgendein Bursche in China fängt an, seine Bestände zu durchforsten, etwas zusammenzupacken und loszuschicken! Gran-di-os!“
Voller Neugier war Edmund online gegangen. Eine Woche lang trieb er sich im Netz herum, um herauszufinden, was es alles zu Kafka gab: Eine ganze Menge. Kafkaseiten, Kafkaforen, Kafkablogs. Ein Link führte zum anderen und es war für Edmund nicht ganz leicht, sich in dem Gewirr zurechtzufinden. Dennoch: Was er suchte, fand er nicht. Den Philosophen Franz Kafka. Den Schriftsteller ja, den Philosophen nicht. Super. Nicht auf einer einzigen philosophischen Plattform war der Name Kafka verzeichnet.
Besser konnte es nicht laufen. Er registrierte sich auf einem geisteswissenschaftlichen Forum und machte ein Thema mit dem Titel Kafka, der Philosoph auf. Als Zitat stellte er dazu:
Wie kann man sich über die Welt freuen, wenn man sich nicht zu ihr flüchtet?
Ein minimalistischer Einstieg, kurz und bündig, klar und tief. Kafka eben. Gespannt blieb Edmund am Bildschirm sitzen und fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis die ersten Kommentare eintrafen. Ob es wirklich so schnell ging, wie Udo behauptete? Seine größte Befürchtung war, dass jemand im Netz bereits diese These vertrat; seine größte Hoffnung, dass in Zukunft Franz Kafka auch im Buchladen als Philosoph zu haben sei. Dank ihm, dank Edmund. Zwischen Habermas und Kant einsortiert würde. Weltweit würden alle germanistischen und philosophischen Fakultäten aus-ras-ten, und erst die Kafkagesellschaften!
Immer wieder drückte er auf die Aktualisierungstaste, und tatsächlich traf nach einer Viertelstunde ein erster Kommentar ein, die von eben diesem Axel Cremer stammte: Kafka, ein Philosoph? Interessant! Er mache einen Sekundärthread dazu auf, um den Gedanken großräumiger auszuspinnen und weiter zu diskutieren. Hier sei der Link: Grenzgänger, Achtung! Literat Kafka als Philosoph!
Edmund klickte darauf. Er konnte keinen großen Unterschied zu seinem eigenen Thema erkennen und fragte sich, was das sollte. Schließlich zuckte er mit den Schultern. Er kannte sich im Netz nicht gut genug aus, um das richtig einordnen zu können: Vielleicht lief es unter der Rubrik Unterstützung von Newcomern.
Er ging in die Küche und machte sich erst mal Frühstück. Als er mit dem Tablett in der Hand an seinen Rechner zurückkehrte, fand er Axel schon auf seiner Privatmail: Seine Kafka-These sei weitergewandert, hierhin und dorthin, bitte mal nachschauen. Edmund biss in sein Marmeladenbrötchen und klickte den beiden Hinweisen hinterher: Seine These stand schon auf vier verschiedenen Plattformen, zwei Foren, zwei Blogs. Er blickte zur Uhr: Es war noch keine Stunde her, dass er sein Debüt im Netz gegeben hatte und schon mäanderte er durch das World Wide Web. Es war genauso, wie Udo es geschildert hatte ... aber war es auch gut? Auf einem Philosophieblog begann eine Kafkakoryphäe der Uni Göttingen schon unbequeme Fragen an Edmund zu stellen: Woher hatte er sein Zitat? Kam es von Max Brod? Wenn ja, war es dubios: Max Brod hatte Kafka geschwärzt (es folgte ein Brod-Bashing), und war er Kafkas eigener Orthografie gefolgt oder hatte er sie modernisiert (es folgte ein Bashing der neuen Kafka-Ausgabe).
Ratlos betrachtete Edmund den Bildschirm. Prost Mahlzeit. Das fing ja fabelhaft an. Kaum hatte er im Netz Guten Tag gesagt, fielen alle schon über ihn her. Der Betreiber des Philosophieforums hatte dank seiner IP-Nummer (das war die Identifikationsnummer seines Rechners, lernte Edmund) bereits herausgefunden, dass er in Frankfurt lebte. Blogger aus dem Rhein-Main-Gebiet meldeten sich auf seiner Mail: Sie würden sich freuen, ihn kennenzulernen, sie seien zwar nur ein kleines Trüppchen – Blogger eben – aber authentisch und rhizomatisch verzweigt. Träfen sich alternierend mal im Café Gegenwart, mal in der Volkswirtschaft. Wenn Edmund Lust hätte: Er sei herzlich für den nächsten Donnerstag eingeladen.
Edmund hatte überhaupt keine Lust. Rhizomatisch verzweigt, wenn er den Quatsch schon hörte! Die Bauten von Ratten waren rhizomatisch verzweigt, und die von Ameisen: So sah´s aus. Die französische Philosophie hatte in den Achtzigern alles, was ihr unter die Feder gekommen war, rhizomatisch verzweigt, selbst die einfachsten Subjekt-Prädikat-Objekt-Sätze, und seitdem war in Deutschland kein klarer Gedanke mehr zu fassen. Sicher, auch er, Edmund, hatte sich damals wie ein Verdurstender auf die shooting stars der Geisteswissenschaften gestürzt, aber schnell war es ihm zu postmodern, zu beliebig geworden. Eben zu rhizomatisch. Übrigens hatten die Franzosen sich mit dem Rhizomatischen auf Kafka bezogen: Das Schloss sei rhizomatisch, und Amerika und der Prozess auch. Das war zwar alles natürlich richtig, aber Kafka war damit keineswegs glücklich gewesen, sondern eben daran gescheitert. Er hatte keinen einzigen seiner Romane fertig geschrieben, war ausgeufert und zerfasert, und hatte sich lieber der kleinen Form zugewandt.
Trotzdem. Hier schloss sich der Kreis für Edmund, und er hatte das Gefühl, das Richtige getan zu haben, als er mit seinem Zitat ins Netz gegangen war. Obwohl es ihn nervte, dass alle schon wussten, wie er hieß und wo er wohnte und dass diese Göttinger Universitätskoryphäe seine Integrität anzweifelte. Ihn anblaffte, er solle seine Quellen besser studieren, bevor er im Netz Kafka verwurste. Und überhaupt, Urheberrecht und falsches Zitat und besser recherchieren und Edmund nur ein peinlicher Amateur.
Edmund bewahrte einen kühlen Kopf und schrieb eine Mail an Axel Cremer, strikt im „Sie“ bleibend: Danke für Ihre Hilfe und Ihren Enthusiasmus, das ging ja schnell – zu schnell? – aber wenn man Kafkas Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande in einem eigenen Buch isoliert herausbrächte, dann käme sicher ein feines, eigenes, philosophisches Werk heraus. Wir lesen uns auf dem Forum, Liebe Grüße, unterschrieb Edmund, nicht zuletzt, um den Kerl von seiner Mail runter zu kriegen.
Dann ging er in den Garten raus, eine rauchen. Es war ein trüber Novembertag und er konnte kaum die gegenüberliegende Hauswand erkennen. Die Nachbarn standen gerade rundum auf. Einer hustete im Bad, als würde er seine Eingeweide ins Waschbecken auskippen, ein anderer hackte auf sein Telefon ein, als gälte es sein Leben. Edmund seufzte. Er wünschte sich so sehr, sich ein kleines Haus auf dem Land leisten zu können, zusammen mit Miriam, seiner Freundin. Nicht zuletzt deswegen wollte er diese Kafkageschichte vorantreiben. Aber alles war liegengeblieben ...
Er trat mit seinem Stiefel seine Kippe aus und kehrte an den Computer zurück. Wieder war eine Antwort von Axel da: Zwischen ihm und Edmund herrsche eine Seelenverwandtschaft, die sich schon in ihrem ersten Mailwechsel zeige, und ja, Nietzsche sei der Hellsichtigste unter den deutschen Philosophen gewesen. Keiner so kristallklar wie Nietzsche; abgesehen von Kafka natürlich, falls Edmunds These sich erhärten sollte.
Kristallklar. Das konnte man von Axels Mails nicht gerade behaupten. Auf eine perfide Art drehten sich seine Sätze um sich selbst, sodass Edmund ständig den Faden verlor. Im Forum würden alle verrückt deswegen, konnte er nachlesen und Axel musste harsche Kritik wegen seiner Beiträge einstecken. Er schreibe wie Sloterdijk, behaupteten die Leute, und das war nicht als Kompliment gemeint.
Langsam kamen Edmund Zweifel, ob es tatsächlich so vorteilhaft war, dass Axel ihn promotete. Sein Ruf im Netz schien nicht der Allerbeste zu sein. Halt die Klappe, Axel!, schrieben sie. Musst du zu jedem Thema deine Meinung reinsenfen? Willst du Edmund fertig machen?
Axel wollte ihn fertigmachen? Aufgescheucht suchte Edmund zwanzig Minuten nach einer missliebigen Bemerkung von ihm im Netz herum, aber ohne Ergebnis. In der Zwischenzeit verbuchte Axel hinter den Kulissen die Angriffe unter schlechter Kinderstube ihrer Verfasser, sie seien mediokre Kleingeister, ganz anders als Edmund und er.
Edmund und er? Er kannte diesen Typ erst seit zwei Stunden und es war ihm ein Rätsel, woher Axel dieses Zusammengehörigkeitsgefühl nahm. Dann schalt er sich für sein Misstrauen. Nur weil Cremer ihm auf die Nerven ging, sollte er nicht die Schotten dicht machen. Er sollte das Ganze erst mal auf sich wirken lassen. Aber wie kontrollieren, was mit seiner These im Netz geschah? Sein Eintrag war so schlank gewesen und trotzdem hatte er diese Flut von Antworten ausgelöst, die nicht nur positiv waren. Meistenteils ja, aber einige hatten auch so reagiert, als hätte Edmund in ein Wespennetz gestochen.
Er überlegte, was seine Kollegen sagen würden, wenn sie ihn online entdeckten. Die Freunde. Die Familie. Er hatte sich mit seinem eigenen Namen angemeldet, ob das so klug gewesen war? Seine Adresse stand im Telefonbuch und er lebte in einer Gartenwohnung. Jeder Irre konnte bei ihm einsteigen. Nicht auszudenken, dass eines Tages mal so einer – Überraschung! – vor seiner Tür stünde und ihn besuchen wollte. Dieser Bockenheimer Bloggerstammtisch wusste jedenfalls schon genau, wo Edmund zu detektieren war.
Anobella - 6. Jul, 13:27